Wo fließt der Strom?

Wo fließt der Strom?

Unsere handgeschriebene Bibel, eigentlich ein ganz schön nerdiges Projekt für die ganze Gemeinde.

Damals, in den 80-ern, als ich Jugendliche war, da gab es den Begriff „NERD“ im deutschen Sprachgebrauch noch nicht; da war ich ganz schön allein mit meiner Begeisterung für eine uralte Fernsehserie namens „Raumschiff Enterprise“ aus den 60-ern, einer Filmreihe aus den 70-ern, die „Krieg der Sterne“ hieß, und ein Buch aus den 50-ern, das den Titel „Der Herr der Ringe“ trug. Als ich mit etwa 17 über die kirchliche Jugendarbeit ein paar Jungs kennenlernte, die ein Spiel namens „D&D“ spielten öffnete sich mir ein Tor, an dem ich gefühlt schon seit Jahren gekratzt hatte, und eine neue Welt tat sich auf. Als ich 22 war, gab es auf der Spielemesse tatsächlich zwei Stände, die das Live-Rollenspiel vorstellten, und einen Vortrag darüber, wie man sich das vorzustellen hatte.
Inzwischen hatte ich auch mehr Leute kennengelernt, die sich für Fantasy, Sience-Fiction und Rollenspiel begeisterten. Wir waren eine kleine Randgruppe abseits des Mainstreams. Viele von uns waren auch kirchlich engagiert. Thematisiert wurde unser Hobby wenig. Zu viel Unverständnis und auch Besorgtheit um unser Seelenheil wurde uns da entgegengebracht. Der D&D spielende Kindergottesdienst-Helfer war vermutlich gar nicht so selten, aber immer „undercover“. Nicht selten waren es die Vertreter der Kirche, mit denen wir uns auseinandersetzen mussten, weil sie Spiel und Realität nicht unterscheiden konnten, weil sie nicht verstanden haben, dass wir das hervorragend trennen konnten.
Das erste Mal wirklich begriffen, dass ich mit meinen Vorlieben nach und nach mehr und mehr in den Hauptstrom gedriftet bin, habe ich, als ich im Sommer 2015 das neue Pokémon-Go spielend auf einer Treppe in einer großen Stadt saß und um mich herum wirklich hunderte andere Menschen wahrnahm, die das Gleiche taten, ganz normale Menschen. Kein eingeschworenes Grüppchen, das sich zu einem seltsamen Zeitvertreib traf. Viele.

Natürlich hätte ich diese Erkenntnis schon haben können, als Star Trek. Next-Generation ins Fernsehen kam oder spätestens mit den neuen Star-Wars-Filmen. Aber der Wechsel von der Randgruppe zum Mainstream wurde mir erst zwischen all diesen Menschen deutlich. Natürlich bin ich immer noch anders. Als ich ein paar Monate später immer noch Pokémon-Go spielte und eine Kollegin ganz verständnislos sagte: „Aber das ist doch schon vorbei.“ war ich geradezu erleichtert. Doch, es gibt auch noch die kleine nerdige Welt, die ich so lieben gelernt habe, sie hat sich nicht brausetablettengleich im großen Mainstream aufgelöst. Aber zumindest sind  Science-Fiction, Fantasy und Co inzwischen so normal und mainstreamig, dass ich nicht mehr andauernd begründen muss, warum ich mit unseren Jugendlichen LARPs organisiere und besuche, dass ich den Mädels beim Nähen von Cosplay-Klamotten helfe, dass wir LAN-Partys feiern und Pokémon-Go spielen gehen im Park.
Beim letzten Krippenspiel haben wir uns dann endgültig  geoutet. Mit einer Zeitmaschine ging die Reise zur Geburt Jesu. Und es gab nicht nur keine irritierten Rückfragen oder Beschwerden, im Gegenteil, wir haben sogar wirklich positive Rückmeldungen bekommen.
Auch, dass unsere Kirche Veranstaltungsort für the-nerdchurch sein darf, zeigt mir, dass sich viel getan hat in den letzten Jahren.  
Im Mainstream will ich gar nicht unbedingt sein, der verändert mir ohnehin zu oft seinen Lauf. Aber dass meine Kirchentür für mich offen ist, so wie ich bin, dass ich nicht einen Teil von mir draußen lassen muss, um willkommen zu sein, das ist wunderschön.
NL

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